Das ist kein Zuckerschlecken.
Der Food-Scout erzählt von kulinarischen Abenteuern, auf die er lieber verzichtet hätte.
Das Herz – oder zumindest das, was ich dafür halte – des Fisches vor mir auf der Platte, zuckt ein letztes Mal, ehe es erschlafft wie ein winziger Ballon, aus dem die Luft entweicht. Der Fugu-Kugelfisch, einer der giftigsten Fische überhaupt, wurde Minuten zuvor mittels der japanischen Tötungsmethode Ike-Jime betäubt und sofort Sashimi-mässig aufgeschnitten. Natürlich ohne die lebenswich- tigen Organe zu verletzten, in erster Linie die Leber, denn dort schlummert das für Menschen tödliche Gift. Tausende Japaner bezahlten im letzten Jahrhundert diesen kulinarischen Kick mit ihrem Leben. Seit es strengstens überwachte Ausbildungen der Köche gibt, die sich auf die Fugu-Zubereitung spezialisieren, fällt nur noch der bedauernswerte Fisch dieser für uns gewöhnungsbedürftigen Mahlzeit zum Opfer.
Die Situation erinnerte mich an meine Kindheit. Als Dreikäsehoch fesselte ich grosse Frösche mit Klebeband auf ein Brett und sezierte sie mit der rostigen, stumpfen Klinge meines Sackmessers. Meine damalige Einstellung dem Tierwohl gegenüber war eher pragmatischer Natur; ich verbrachte meine ganze Freizeit in den Wäldern und am Wasser, beides fasziniert mich noch heute. Zudem hiess uns der in Frankreich aufgewachsene Vater regelmässig Weinbergschnecken und Frösche aufsammeln (wie er diese um die Ecke brachte, wollte ich gar nicht wissen). Daheim herrschte Küchenmeister Schmalhans, und auch die Hunderten fetten Bachforellen, die ich mittels einer besonderen Technik von Hand aus der Eulach fischte, lockerten unseren Speisezettel auf. Da wir nur am Wochenende baden durften, stand unsere alte Badewanne meist als Forellen-Bassin zur Verfügung. Frische schätzte ich schon damals.
Das Essen oder zumindest das Ausprobieren von (für uns) absonderlichen Dingen war also einerseits meinen Genen geschuldet, natürlich aber auch meiner kindlichen Neugierde. Die Tage und Nächte, die ich zu Hause in unserem stockfinsteren, feuchten Keller weggesperrt war, weil ich den cremigen Spinat hasste und nicht aufass, kochten mich schlussendlich weich. Damals schwor ich mir, zumindest alles immer zu probieren. Doch obwohl es dort unten von Kellerasseln, Tausendfüsslern und fetten Mäusen nur so wimmelte – die Not war auch nach zwei Tagen nicht gross genug für Genüsse dieser Art. Neben alldem, was diese Erlebnisse mit mir machten, ist die Lust auf Unbekanntes im kulinarischen Bereich vermutlich noch das kleinste Übel.
Nun, was wir hier bei uns als möglicherweise ekelerregend und grausig empört von uns weisen, hat in seiner Ursprungsgegend durch- aus seine Berechtigung. Mehr noch gilt Abscheuliches dort nicht selten als Delikatesse. Unabdingbar, dass ich als Feinkostjäger auf meinen zahllosen Reisen rund um die Welt davon probierte, ja: probieren musste! Die Erkenntnis, solche Speisen als normal für die locals zu kategorisieren, korrelierte oft mit meiner Befindlichkeit, keine oder nur massvolle Abscheu zu zeigen – Freundlichkeit ist eine Zier!
Wie gut erinnere ich mich an eine Bahnfahrt mit chinesischen Teehändlern durch die abgelegene Zhejiang-Provinz. Ich sass mit den drei munter parlierenden Bauern im Abteil, verstand natürlich kein Wort und versuchte aus deren Gesten und Gesichtszügen herauszufinden, was sie mir sagen wollten. Einer zog einen Beutel mit in Papier eingerollten Kugeln hervor, sie erinnerten mich, noch eingepackt, an die Fünfer-Bollen, die wir früher am Kiosk kauften. Doch der Geruch, der sich sofort im Abteil verbreitete, als die Jungs ihre Snacks auspack- ten, war von einem anderen Stern. An Flucht war nicht zu denken, im Gang standen die Passagiere dicht an dicht, scheinbar war ich der Einzige, der wie ein Erstickender mit der Bewusstlosigkeit kämpfte. Natürlich schob ich mir aus obengenannten Gründen auch so ein Ding in den Mund und schluckte es sofort herunter, wie ein Alki auf dem Trockenen seinen Schnaps.
Was dann passierte, sucht mich jetzt noch in Albträumen heim. Den augenblicklichen Brech-Reflex kennt wohl jeder. Nur versuchte ich mir nichts anzumerken, aber der süsslich- faulige Geschmack, eine Mischung aus Leichen- geruch, Silofutter in sehr fortgeschrittenem Stadium und Rosen-Blumenwasser, das zwei Wochen vergessen herumstand, liess meinen Wunsch zur Makulatur werden. Zumindest schaffte ich es, durch die zusammengebissenen Kiefer nichts entweichen zu lassen. Mein Mageninhalt suchte sich dann seinen Weg durch die Nase. Nahe am Ersticken, simulierte ich einen Schneuzanfall und füllte mein Taschen- tuch mit dem grauslichen Zeugs plus dem vorangegangenen Frühstück und deponierte es unauffällig unter der Sitzbank. Nachschlag lehnte ich dankend, aber bestimmt ab. Später erfuhr ich, dass die Kugeln aus Fleisch von Katzen und Hunden, sowie aus über-fermentiertem Reis zusammengeknetet wurden, das Fleisch aber nicht zubereitet, sondern durch natürlichen Zerfallsprozess so etwas wie mürbe- gefault wird. Und wer um die Kühlschrank- dichte vor 20 Jahren in der chinesischen Pampa weiss, kann sich leicht vorstellen, wie kontrolliert diese Fermentierung ablief.
Gruss aus der Küche des Leibhaftigen
Überhaupt haben natürliche Zerfallsprozesse meistens Bakterien an der Arbeit, wenn es auf der Rangliste der Übelkeiten Richtung Medail- lenränge fault. Nicht selten starten auch Gärungsprozesse, das machte sich die frühe Menschheit zwecks Auflockerung ihres harten Daseins mit kleineren und grösseren Räusch- chen zunutze. Doch möchte ich nicht näher erfahren, wie ein Bier oder Met vor fünfzigtau- send Jahren gerochen hat. Klar, vor der Elektri- fizierung war Haltbarmachung ein Glücksfall, nur die Bewohner von sehr kalten Gegenden waren da etwas besser dran. Trotzdem sind meine Erfahrungen gemischt, wenn ich an gewisse nordischen Spezialitäten denke.
Zum einem ist da Surströmming, fermentierter Hering aus Schweden. Er wird nach der ersten Gärungs- und Fermentierungsphase in Dosen gepackt, wo es munter weitergeht mit den chemischen Prozessen. Die Dosen beginnen darum, sich aufzublähen. Der Geschmack des Inhaltes wird während dieser «Reifung» nicht unbedingt mehrheitsfähiger: Es entwickeln sich Schwefelwasserstoffe, die dem eingedosten Fisch seinen charakteristischen Geschmack (Gestank) verleihen. Ich hatte mir damals auf einer Scouting-Reise ernsthaft überlegt, solche Dosen in die schwedischen Wochen im Globus zu integrieren, wir stehen ja für Authentizität! Doch hörte ich auch Geschichten von Dosen, die unter dem enormen Druck explodieren. Die Vorstellung von der Zürichberg-Kundin, die mit ihrem Chanel-Mantel und einer 600 Franken-Charles-Aellen-Frisur vor dem Regal steht, und die Dose geht genau dann hoch, entbehrt zwar nicht einer gewissen Ironie. Aber irgendwie hängt man ja an seinem Job.
Noch derber geht es bei den Isländern zu und her. Schon einmal von Hakárl gehört? Falls nicht, lassen Sie Nachforschungen bleiben, und fragen Sie nie nach den harmlos aussehenden Würfeln aus dem Fleisch des Grönlandhais oder Gammelhais, wie ihn Einheimische nennen, die diesen gerne in Form von Appetithappen verzehren. Aber aufgepasst, es ist eher ein Gruss aus der Küche des Leibhaftigen! In mir weckte der bestialische Gestank Assoziation von Urin einer an Tuberkulose dahinsiechenden Stute, der zwei Wochen an der Sonne gestanden hat.
Natürlich ist mir, Gott sei Dank, solcher Urin noch nie unter mein feines Näschen gekommen, aber die Vorstellung davon ist nicht von ungefähr: Der Grönlandhai lagert während seines Daseins in tiefen Gewässern nämlich Unmengen von Harnstoff in seinem Fleisch ein, angeblich um den Druck auszugleichen. Andere Fische tun das zwar nicht, aber der Hai weiss bestimmt, was er tut. Das Fleisch wird in Island in Streifen geschnitten und für einige Monate im kalten Boden vergraben, danach getrocknet und gewürfelt. Er soll das Immunsystem stärken und auch sonst einige Zipperlein heilen. Ich weiss, ich werde auch in tausend Jahren nie so krank, dass der Gammelhai zu meiner letzten Hoffnung wächst. Natürlich trinken die Eingeborenen dazu Unmengen von Kartoffelschnaps, anders sind die Dinger auch gar nicht runterzukriegen. Nach drei Würfelchen – als Profi möchte man auch solchem Zeugs eine Chance geben – und einer Flasche gebrannten Wassers war Schluss. Ich war so sturzbetrunken, dass ich, selbst über dem Teller voll Hakárl, am Tisch einschlief.
Das Meer ist eine unerschöpfliche Quelle, was seltsame Lebewesen anbelangt. Und den Menschen stoppt ja nicht einmal Gift und Galle vor dem Verzehr dessen, was da schwimmt oder sich vorwärts pulsiert, wie am Beispiel des Fugu-Kugelfisches erlebt. Noch vor dem Stellenantritt bei Globus verbrachte ich längere Zeit im tropischen Nordosten Australiens. Irgendwie kam ich dort zum Job des Tour-Guide für eine Uni in Brisbane; ich schipperte die knapp zwanzigjährigen Asiaten jeweils an langen Wochenenden nach Fraser-, Moreton- und Hitchinbrook Island, grandiose Naturreser- vate mit üppiger Flora und Fauna. Natürlich war ich auch der Koch. Einmal schleppten die Jungs eine riesige Qualle an, sie war gerade an den Strand gespült worden und zuckte noch. Müssig zu sagen, dass meine Erfahrungen im Quallen- Zubereiten minimal waren. Ich liess abstimmen, weil ich auch auf das Essverhalten der japanischen und taiwanesischen Studenten zählte, die essen ja alles.
Die Qual der Qualle
Die Mehrheit sprach sich für Sashimi aus – also roh essen –, was mich doch sehr überraschte. Schon das Zerteilen war eine Qual. Ekelerregend wirken kann ein Lebensmittel nicht nur durch einen widerlichen Geschmack, sondern auch durch seine Konsistenz. Was hier bei dem schleimigen, gallertartigen Tier der Fall war. Unter grösstem Ekel zerschnitt ich das Tier, probierte dann und wann eine winzige Ecke. Was sich als Glücksfall herausstellte: Fast alle, die herzhaft zugegriffen hatten, erlebten eine furchtbare Nacht und liessen alles wieder los. Wirklich alles. Dummerweise verpetzten mich einige beim Rektor, von dem tollen Job musste ich mich in der Folge aufgeben trennen.
Natürlich sorgten die nun auch bei uns in der Schweiz ins Gespräch gekommen Insekten immer mal wieder für gustatorische Überraschungen. Als Food-Scout beschäftigte ich mich schon vor 25 Jahren mit allem Essbaren, das kreucht und fleucht – natürlich in den Ursprungsgebieten. Dort, wo Proteine aus Insekten seit jeher auf dem Menüplan stehen. Und das ist immerhin bei etwa zwei Milliarden Menschen der Fall. Mir machte der Verzehr von Krabbeltieren nie grosse Mühe, solange sie nicht noch lebten. Auch grosse Spinnen und Schlangen verwandeln sich bei entsprechender Zubereitung in knusprige Häppchen. Ausser, man beisst auf eine Schlangen-Gallenblase, da verlieren empfindliche Gemüter schon mal das Bewusstsein. Überleben tut das aber jeder.
Nur einmal verursachte mir eine riesige Larve Kopfzerbrechen. Es war In Papua-Neuguinea, ich nutze einen Besuch im nordaustralischen Darwin für einige Tage Trekking auf dieser nach wie vor weitgehend unerforschten, dünn- besiedelten Insel. Wir machten Halt bei einer Ansammlung von Häusern auf Stelzen. Die Eingeborenen, freundlich und zuvorkommend, boten uns eine schöne Auswahl kross gegrillter Würmer, Maden, Larven und anderen Undefi- nierbaren Insekten an. Ich griff herzhaft zu. Viel Geschmack hatten die Dinger nicht, aber sie waren angenehm zu beissen und zu kauen.
Ich war hungrig und hatte als Kind, immer leicht zu kurz gekommen am Tisch, sehr früh ein geübtes Auge für die grössten und besten Stücke entwickelt. Ich schnappte mir ein etwa zwölf Zentimeter grosses Teil, schob es ganz zwischen die Lippen und biss herzhaft zu. Knusprig war es auch – aber nicht wegen die Hitze des Feuers. Hart war die Hülle, weil sich darin ein Tier in der Verpuppungsphase befand. Ich erschrak fürchterlich, als der Inhalt am Gaumen herumwimmelte und schluckte das Alien in einem Zug herunter. Der Geschmack war nicht wirklich widerlich, aber die Bewegungen der riesigen, schleimigen Made zu spüren, während sie die Speiseröhre hinunterrutschte und dann einige Minuten lang für Unruhe im Magen sorgte, gehört nicht zu meinen bevor- zugtesten Erinnerungen.
Dagegen war mein höchstgelegener Lunch, vor einem Jahr in Peru, der reinste Sonntags- ausflug. Nicht das Dorthingelangen – der 5000 m ü. M. gelegene Salkantay-Pass musste zuerst bezwungen werden – war die echte Herausforderung. Nein: Den putzigen Meerschweinchen, die bei meinem Eintreffen in der stockdunklen Hütte einer blinden Kartoffelbäuerin noch drollig um die Feuerstelle spielten und sich wärmten, wurden ratzfatz die Kehlen durchgeschnitten, bevor sie über der Glut gebraten wurden. Ob es geschmeckt hatte? Ähnlich wie Huhn oder Kaninchen, aber ich hätte sie rosa gebraten. Doch ich bin auch der Erste, der sich bei uns über die allgegenwärtig zu weich gekochte Pasta nervt.
Erfahrungen dieser Art sollten für alle Reisen- den und am Essen interessierten Menschen eine Selbstverständlichkeit sein. Und nicht nur für diese. Manchmal muss man auch nicht weit reisen. Ich fand schon ein Stück Käse in meinem Frigo, dessen Geruch nahe an Hakárl herankam. Viel zu viele Menschen mäkeln an allem möglichen herum: «Ich mag das nicht und das nicht und bitte ja keinen Blumenkohl.» Der Kolumnist Niko Stoifberg brachte es in einem Gastbeitrag für ein Kochbuch einst auf den Punkt: «Es mangelt ihnen an Neugier, an Offenheit, an Vorstellungskraft. Sie sind ignorant, intolerant, und zwar gegenüber etwas so Banalem wie zum Beispiel Blumenkohl. Wer sich nicht mal mit Blumenkohl anfreunden kann, wie mag es dem erst mit den Nachbarn gehen? Mit den Arbeitskollegen? Mit der Schwiegermutter? Mit fremden Völkern? Mit neuen Technologien, neuen Ideen, neuer Kunst? Wie soll das alles Platz im Hirn haben, wenn es nicht mal der Blumenkohl dorthin schafft?»