Leise klickend schliessen sich die polierten Holztore hinter der Limousine, die mich in rund neunzig Minuten vom Flughafen in Trivandrum hierher in die Ayurveda-Klinik Kalari Rasayana brachte. Sie liegt paradiesisch an den Backwaters in Kerala, Südindien. Etwas mulmig ist mir schon zumute. Hier soll ich die nächsten 21 Tage eingeschlossen sein. So ähnlich muss es Henri Charrière alias ‚Papillon‘ zumute gewesen sein, nach seiner Deportation auf die Teufelsinsel. Der Vergleich mit einer Besserungsanstalt drängt sich auf, weil diese Klinik als die strikteste aller Ayurveda-Resorts in Indien gilt. Während der drei Wochen Pancha Karma – in der ayurvedischen Heilkunst die körperliche und seelische Reinigung und Heilung meines durch den westlichen Lebensstil vergifteten Organismus – sollen die drei Doshas in Einklang gebracht werden (s. Box). Beim Einchecken in der luftigen Lobby – es ist 30 Grad warm und schwül – fällt mir auf, dass ich als Patient bezeichnet werde, nicht als Gast. „Ein wichtiger Unterschied“, erklärt mir später mein Arzt, Dr. Sankar. „Wir besitzen den Status einer Ayurveda-Klinik, nicht bloss den eines Resorts“. In einem solchen Resort in Sri Lanka erlebte ich vor einigen Jahren das erste Mal den Segen dieser alten, indischen Heilkunst, in deren Zentrum vegetarische Ernährung sowie Massagen und Anwendungen mit Oelen, Kräutern und Heilpflanzen stehen.
Wer jetzt an animatorgetriebenen Pool-Plausch und Schönheitsbehandlungen denkt, sollte eher ein Ayurveda-Resort, denn eine Klinik ins Auge fassen. Hier ist ausser täglichem Yoga und Meditation jedwelche Körperanstrengung zu unterlassen. Während des Shiro Dara, wo warmes Oel langsam über die Stirn gegossen wird, sollte man sogar auf Lesen verzichten. In Sri Lanka war der medizinische Teil wohl ähnlich wie in Kerala, aber noch vor dem morgendlichen Yoga schmiss ich mich in die Brandung des warmen indischen Ozeans. Oder döste am Pool, joggte ins nächste Dorf, um den Fischmarkt zu bestaunen und grub am letzten Tag im Urwald eine gigantische Alocasia aus, deren Wurzel ich im Koffer heimschleppte. Sie gedeiht prächtig daheim. Doch hier ist alles anders. Ausflüge sind tabu, es ist nicht erlaubt, auch nur einen Fuss ausserhalb der hohen Umgebungsmauer zu setzen. Draussen bleiben müssen hingegen Alkohol, Nikotin, Koffein und Teein sowie alle anderen Drogen, die mein Leben angenehmer machen. Und auch die eigenen Kleider. Dafür kann man den Koffer mit Bücher füllen. Im Zimmer liegen einige Sets Blusen und Hosen aus weissem, leichtem Baumwollstoff bereit, ähnlich einem Judo-Anzug.
Nun, meine Umgebung reagierte überrascht, fast ungläubig, als sie von meinen Ayurveda-Plänen hörte. Ich bin nicht krank, trage keinen dicken Bauch mit mir herum und bin mental wie physisch gut beisammen. Zudem wird mein Level an Spiritualität von jedem Güterwaggon übertroffen. Doch vor einigen Jahren liess ich mich schon einmal auf das Abenteuer dieser viertausend Jahre alten Heilkunst ein, danach fühlte ich mich ein Jahr lang wie neugeboren.
Gleich nach Ankunft und Bezug der sehr geräumigen und auf eine minimalistische Art luxuriösen Studios steht die Arztkonsultation beim Doktor an. Er will meine gesundheitliche Historie wissen, und auch jedes aktuelle Zipperlein. Besonders wichtig sind ihm meine Angaben über Ernährung und Verdauung, stellt das Ayurveda doch diese Vorgänge ins Zentrum von Diagnose, Diätenund heilenden Anwendungen. Dann noch Puls fühlen, Blutdruck und Gewicht messen und Zunge begutachten.In Begeisterungsstürme bricht er nicht aus, sieht mich aber auch so bald nicht auf dem Sterbebett. „Sie machen in Ihrer Ernährung zwar vieles richtig. Wenig Fleisch, viel Olivenöl und Gemüse, regelmässig Hülsenfrüchte. Auch das Verhältnis zwischen gekochtem und rohem Essen stimmt. Aber Sie essen zu falschen Zeiten und dann noch Unpassendes. Und zuviel Alkohol und Kaffee“. Stimmt. Oft kein Frühstück, Lunch noch seltener. Hunger bekämpfe ich mit Wasser, Obst und Früchte, das hört der Doktor gerne. Aber abends dann richtig zuschlagen, oft zu spät und zu ausgiebig, das missfällt ihm. Kochen ist ein fast kontemplatives Vergnügen für mich, neben der beruflichen Seite. Da ist dann keine Eile angesagt und oft wird es spätabends, bis ich mich endlich hinsetze. Dass dabei schon einige Gläser Wein die Kocherei kurzweiliger gestalteten, versteht sich von selbst. Und immer viel Salat dazu, den ich so liebe. Was kompletter Unsinn ist, die Verdauung auf die Nacht hin zusätzlich noch mit Rohkost zu belasten. Eine Ärztin kommt hinzu, sie ist die Ernährungsspezialistin und wird nun täglich mit meinem Doktor zusammen bestimmen, was der Koch für mich zubereiten darf. Am ersten Abend kriege ich eine Suppe und ein leichtes Gemüsecurry serviert. Jeder Patient sitzt am einem eigenen, kleinen Tischchen, wie Schulpulte sind sie in gebührendem Abstand zu den anderen aufgereiht. Reden, lesen und elektronische Gadgets sind während dem Essen verpönt, bewusst essen ist angesagt. Danach erkunde ich die weitläufige Anlage, wunderschön am Wasser gebaut. Kokospalmen und unzählige Heilpflanzen, -büsche und –bäume wachsen im Park, auf den Wegen flanieren einige Patienten in ihren weissen Kutten. Die Szenerie erinnert mich an T.C. Boyles Buch ‚Willkommen in Wellwille‘ und seine souveräne Beschreibung des Sanatoriums von Cornflakes-König Dr. Kellogs. Die Besucher, bis zu dreissig Patienten können aufgenommen werden, kommen aus aller Welt. Eine eher laute Schar Russen, dann auch Deutsche, Franzosen und Schweizer suchen hier Entspannung und Gesundheit. Gaby und Detlef aus Gütersloh haben schon viele solcher Aufenthalte hinter sich, er hat MS und fühlt sich nie so gut wie in den Wochen hier während der Kur und noch Monate danach.
Tagwache ist um fünf Uhr morgens, geschlafen habe ich mässig, wie immer in fremden Betten. Der Yoga-Lehrer erwartet uns gutgelaunt in einem an den Seiten offenen Pavillon, es ist noch zappenduster, der Urwald schläft noch, nur vom nahegelegenen Tempel erschallen Musik und einlullender Singsang. Etwa fünfzehn Frühaufsteher haben sich eingefunden, mehrheitlich Frauen, die auch insgesamt die Mehrzahl stellen. Yoga war für mich schon immer eher Qual als Wahl. Partnerinnen schleppten mich jeweils in die Studios, lange hielt ich nie durch.
Als Ausdauersportler schwitze ich sehr rasch, literweise rann mir jeweils das Wasser aus den Poren und brachte die feinen Damen um mich herum an den Rand der Verzweiflung. Ich muss mich draussen bewegen können; schön faltet man sich hier unter freiem Himmel zusammen, zudem morgens um halb sechs. Die Russin neben mir spreizt sich schon beim Aufwärmen in den Spagat und senkt ihren Kopf dabei bis zur Matte hinab. Verzerrt lächelnd spitzt sie ihre Schlauchbootlippen, während mein Versuch, mich kapriziös zusammenzufalten, grandios misslingt. Die Streberin kann es nicht lassen, zwischen den Übungen des Yogis ständig noch ihre eigenen vorzuturnen und dabei jedesmaltriumphierend in die Runde zu grinsen. Die Angeberin! Meine Freundin wird die nicht. Ich sage nichts, ignoriere die Schmerzen und versuche, meine Atmung zu kontrollieren. Die Vorstellung, Ludmilla müsste mit mir dreimal hintereinander über den Gotthard pedalieren, besänftigt mich. Oooommhhh.Der frühe Morgen ist die schönste Zeit des Tages, hier wie an den meisten Orten auf der Welt. Rasch siegt die Dämmerung über die Nacht und auch der Dschungel erwacht. Fremdartige Vogelstimmen durchkreuzen den Versuch des neuen Tages, sich still und heimlich anzuschleichen. Die aufgehende Sonne zaubert ein magisches Licht über Wald und Wasser, die Nacht ist Geschichte und was sie erzählt, steigt als feiner, leiser Dunst über das Blätterdach des Waldes.
Um Sieben läutet die Glocke für das Frühstück, sie kündigt jeweils auch Lunch und Dinner an. Der Tagesablauf ist streng strukturiert. Yoga, Frühstück, Ruhen, Arzt-Konsultation, Massage, Ruhen, Fruchtsaft, Meditation mit Yoga Nidra, Lunch, Ruhen, wieder Massage, Früchte, Ruhen, Dinner, Schlafen. Vor mir liegt ein Schälchen mit gedämpften Apfelschnitzen. Yoga machte hungrig und ich verlange viermal Nachschlag, der mir auch freundlichst gewährt wird. Fast von allen Speisen darf man soviel essen wie man möchte, die Ausnahmen bestimmt die Ärztin. Ayurveda ist mitnichten eine Hungerkur, trotzdem nehme ich in den ersten zehn Tagen sieben Kilo ab. Tag eins bis drei sind dem Angewöhnen von Seele und Verdauung gewidmet. Ich freue mich auf die erste Massage. Mein Therapist Ajith heisst mich den Dress ablegen und bindet mir mit dünnen Schnüren einen Streifen Baumwolltuch um die Lenden, ganz nackt geht nicht. Ich betrachte mich im Spiegel, den vorsintflutigen G-String untenherum festgezurrt. Na ja. Zu dritt reiben mich die Therapeuten kräftig mit streng riechendem, warmem Oel ein. Ajith erzählt mir, wie begehrt die Arbeit hier sei. Das Rasayana, wie auch die Schwesterklinik Kalari Kovilakom, gelten als das El Bulli der Ayurvedajünger, entsprechend angesehen ist die Arbeit hier. Und wertvoll für das CV. Die Behandlungen gliedern sich in Ganzkörpermassagen, Ölbehandlungen des Kopfes, Wärmetherapien, Abführungen und Darmspülungen, Reinigung der Gehörgänge und des Nasen-Rachenraumes mit flüssigem Ghee, das ist geklärte und gewürzte Butter. Als wichtigste Therapie wird Ghee über mehrere Tage in zunehmender Menge zum Trinken verabreicht. Was jeden Tag Überwindung bis zum Erbrechen kostet. Wie auch die morgens und abends einzunehmenden Kräutersude und Pillen.
Jeden zweiten Abend ist Unterhaltung angesagt. Das können traditionelle Tänze sein oder ein Vortrag über die Tempel der Gegend. Heute zeigt uns der Koch, wie er Gemüsesuppe und Linsencurry macht. Auf einem langen Tisch sind Gas-Rechauds und die ganze Mise-en-Place aufgebaut. Als es in den Pfannen zu brutzeln beginnt, hechten die Russinnen an den Tisch und hängen ihre gigantischen Smart-Phones in die Töpfe. „Wir sehen nichts mehr“, sage ich streng. Wiederwillig ziehen sich die Damen etwas zurück. Plötzlich geht bei bei allen Rechauds das Feuer aus. Der Koch zündet neu, nichts passiert. „Jetzt hat Putin das Gas abgedreht“, ruft Lucie. Die Deutsche macht in Immobilen auf Mallorca und kam schon im Fernsehen. Ich pruste los. Schlauchboot-Ludmilla dreht sich um und faucht mich an. „Wurde mit den Krusten in Ihrem Darm auch Ihr Humor herausgespült“? Mein flottes Witzchen kommt schlecht an. In ihren Augen sehe ich Interkontinentalraketen starten. Ich treffe blitzschnell eine strategische Entscheidung und mache mich vom Acker.
Die Tage gehen dahin, definiert durch ihre klare Einteilung. Dazu schaffe ich mir eigene Rituale. Beim Sonnenuntergang aufs Wasser schauen, die Raben beim Bau ihrer Nester beobachten, die Fischer bestaunen, wie sie mit langen Stangen ihre Boote über den flachen See stochern. Vom Ufer aus betrachte ich grosse Quallen, die sich lautlos vorwärts pulsieren. Sie wollen mir wohl zeigen, dass jedes Ziel auch ohne Hektik erreicht werden kann. Ich tauche je länger, je tiefer in eine grosse, unerschütterliche Ruhe ein, lese viel und schlafe weniger als sonst schon, da mir fast jegliche körperliche Betätigung fehlt. Ich geniesse die Massagen, das warme Oel auf meinem Körper, die heissen Kräuterkissen, mit denen mich die Therapeuten niederstempeln, so dass ich mich fühle wie ein Brief, der in der Frankiermaschine festklemmt. Das Essen schmeckt und ist abwechslungsreich, an Kaffee und Wein verschwende ich seit dem dritten Tag keine Gedanken mehr. Umsomehr in Erinnerung bleiben wird mir das äusserst herzlich agierende Personal.
Beim Austrittsgespräch lobt mich Dr. Sankar für meinen Duchhaltewillen, Loyalität und Appetit, er erzählt von Patienten aus Italien und Frankreich, die samt Mokka-Kanne, Kochgeschirr, Pasta und Foie Gras im Koffer anreisten. Oder sich nachts aus dem Areal schlichen, in die nächste Strassenküche. Ich erhalte Medikamente für weitere sechs Monate, eine ausführliche Liste, was ich im Tagesverlauf essen sollte und was nicht, sowie jede Menge Ratschläge, was meinen Alkohol- und Kaffeekonsum betrifft. Sie gefallen mir nicht alle. Und natürlich die Bitte, nächstes Jahr wiederzukommen. Was ich mir noch so gerne hinter die Ghee-gespülten Ohren schreibe.
Definition Ayurveda
Die Bezeichnung Ayurveda kommt aus dem Altindischen. Sie setzt sich aus zwei Worten zusammen: Ayur bedeutet „Leben“ und Veda heißt „Wissenschaft“; Ayurveda ist somit die „Wissenschaft vom Leben“. Zweck dieser Wissenschaft ist , die Gesundheit des Gesunden zu erhalten und den Kranken zu behandeln. Ayurveda ist also mehr als eine Heilkunde, es ist eine umfassende Gesundheitslehre.
Was versteht man unter Doshas?
Der Ayurveda hat eigene Auffassungen über Bau und Funktion des menschlichen Körpers. Nach seiner Lehre besteht der menschliche Körper aus strukturellen Elementen (hierzu gehören Haus, Knochen, verschiedene Gewebearten, feine Kanalsysteme usw.) und aus energetischen Komponenten. Unter den Energien, die im Körper wirken, sind die sogenannten Doshas die wichtigsten. Man unterscheidet drei Doshas:
1. Vata bewirkt im Körper Atmen, Sprechen und Singen, treibt Harn und Stuhl hinaus und verteilt Nährstoffe im Körper. Auf psychischer Ebene ist Vata verantwortlich für Beweglichkeit oder Unstetigkeit in Gedanken.
2. Pitta bewirkt Verdauung und Rotfärbung des Blutes, Sehkraft und den Glanz der Haut. Pitta gibt auch Einsicht und Entschlossenheit, Charakteristische Qualitäten sind fettig, heiß, scharf und flüssig.
3. Kapha befeuchtet die Speisen, bewirkt Festigkeit der Glieder, vermittelt den Geschmack und macht die Gelenke geschmeidig. Mit den Qualitäten schwer, kalt, mild, ölig, süß, fest und schleimig wird Kapha charakterisiert.
Diese drei Energien sind bei jedem Menschen vorhanden, jedoch in unterschiedlichen Levels. Ziel der Behandlung ist, diese Energien so in Einklang zu bringen, damit keine dominiert,
Wie behandelt der Ayurveda?
Im Ayurveda gibt es verschiedene Therapieansätze. Man unterscheidet sogenannte „besänftigende (shamana) Therapien, „reinigende“ Verfahren und „aufbauende“ Maßnahmen. Neben einer hochentwickelten Pflanzenheilkunde spielen reinigende Verfahren eine große Rolle. Hierzu gehört auch das Pancha Karma, eine Zusammenstellung von äußerlich und innerlich reinigenden Maßnahmen (wie Ölmassagen, Schwitzkuren, Abführen, Erbrechen, Therapien über die Darmschleimhaut, Inhalationsverfahren u.ä.) von außerordentlicher Wirksamkeit.Bei allen Therapien spielt die Ernährung eine substanzielle Rolle. Strikt vegetarisch und leicht verdaulich, kein Alkohol, kein Koffeein.