Der bedeutendste Food-Export Italiens startet durch. Foodscout Richard Kägi über die Revolution am Holzkohle-Ofen und wo in Italien zurzeit die besten Pizzas aus dem Ofen geholt werden.
Hier nicht weiterlesen sollen: Die Asketen, die Angst haben, an Gewicht zu- und damit an Attraktivität abzunehmen, bei Tinder wie auf dem Arbeitsmarkt. Auch alle anderen Kalorien-Sparfüchse, Wasabi-Erbsenzähler und sonstige verkrampften Esser, die obskure Food-Philosophien als Ersatzreligion gewählt haben und so über ihre Ernährung ihre Persönlichkeit formen. Aber auch alle diejenigen, die kein Brot und keine Pasta mehr essen, aus lauter Angst – natürlich ohne ärztliche Diagnose – die Gluten kleben an ihren Eingeweiden wie Tapeten an der Wand.
Denn hier geht es (auch) um die Wurst. Aber vor allem um die Pizza. Um sie und um tausend leckere Dinge mehr, die darauf passen und von denen nicht wenige die schwarzen Listen derer zieren, die sich immer zuerst gerne daran erinnern, was sie nicht essen.
Pizza – la Storia
In Italien wird gerade eine neues Kapitel in der Geschichte der Pizza geschrieben, eines, das möglicherweise nicht weniger bedeutend ist, als vor 500 Jahren das erste Mal Tomaten ihren Platz auf den gebackenen Teigfladen fanden. Sie ist unwiderlegbar der bedeutendste kulinarische Export Italiens, die Welt wäre eine langweilige ohne sie. Abgeleitet von den Fladenbroten der Etrusker, die 1000 J.v.Chr. diese schon auf heissen Steinen buken, über die Griechen, die im Süden Italiens dieses Handwerk weiterentwickelten, waren es die Neapolitaner, die vor 1000 Jahren unter dem Namen ‚Picea‘ – was soviel wie ‚Ruck‘ heissen soll (und die Bewegung des Holzschiebers umschreibt, mit dem die Pizza in den Ofen gestoßen wird) dieses simple Gericht zum ersten Streetfood der Geschichte erhoben.
Gourmet Pizza – was ist darunter zu verstehen?
Nun, seit einiger Zeit eröffnen in Italien im Wochentakt Pizzerias, deren Köche anders ticken als die meisten Giovannis und Stefanos in ihren mehlverstaubten Schürzen. Anstatt ihren Teig aus den gängigen Industriemehlen – zumeist ein billiges tipo 00, was auf den Ausmahlgrad hinweist, mit hohem Kleberanteil, fast immer maschinengemahlen – zu kneten, beschaffen sich immer mehr Pizzaioli kostbare, steingemahlene Mehle aus artisanalen Mühlen, Roggen, Weizen, Dinkel, meistens Vollkorn, am liebsten Bio und noch lieber aus Slow-Food oder IGP-geschützter und garantierter Herkunft. Daraus, mit gefiltertem, pH-konformem Wasser und oft mit Hilfe eines Sauerteig-Starters, der Livieto Madre, entstehen über 2 – 3 Tage Gehzeit hocharomatische Teige, die nichts gemein haben mit den allermeisten, eher geschmacklosen, runden Fladen aus dem kleie- und keimlinglosen 00-Mehl. Der landesweit bekannte Römer Gabriele Bonci war der Vorreiter, mit seinen grandiosen Pizza in teglia, am Stück. Aber mit dem neuen und ungewohnten Vorgehen für einen viel schmackhafteren Teig ist es nicht getan. Auch was darauf landet, ist in den sogenannten ‚New wave’ oder ‚Gourmet‘-Pizzerias von allerbester Qualität. Die Köche reisen quer durch Italien, sie wollen die Produzenten der Produkte, die sie verwenden, persönlich kennenlernen. Wollen verstehen, warum gerade die Milch von Agorelese Kühen aus dem gleichnamigen Ort an der Amalfiküste den allerzartesten und doch würzigen Fior di Latte ergibt. Die Burrata muss aus der DOP Zone aus dem apulischen Andria geliefert werden, Sardellen – natürlich eingesalzen – und die daraus fabrizierte Colatura d’alici, die italienische Fischsauce, selbstverständlich aus dem sorrentischen Cetara.
Kommen Salumi ins Spiel, geht kein Weg an der Cappocollo und Pancetta von Giuseppe Santoro aus Martina Franca vorbei: Natürlich erst Sekunden vor dem Servieren dünn aufgeschnitten über die Pizza verteilt. Leider produziert er so wenig, dass es nicht einmal für Globus reicht. Auch beim Gemüse wird nicht gespart. Presidio Slow Food Pelati aus der DOP Region Agro Sarnese-Nocerino, darunter geht nichts. Artischocken aus Latium, im Morgengrauen geerntet um am gleichen Tag auf der Pizza zu landen. Natürlich sind dann auch die Preise ‚gourmet‘. Kostet eine normale Margarita in Neapel immer noch um die 5 Euro, verlangen die Stars der neuen Szene, schon auch mal 30 Euro. Dafür belegt mit all den beschriebenen Köstlichkeiten.
Die Tradition lebt weiter
Natürlich, traditionelle, neapolitanische Pizzas, wie sie dort etwa im Da Michele gebacken werden, sind wunderbar. Die nur 2 Varianten – Margarita und Marinara – die dort angeboten werden, gehören zum Besten, was aus herkömmlichem Weissmehl gebacken werden kann. Auch dort spricht man gerne davon, dass ein perfekter Pizzateig fest und geschmeidig wie ein Frauenhintern sein soll. Wie das jetzt zu werten ist, das überlasse ich jedem Einzelnen. Ich konzentriere mich beim Kneten auf den Teig allein. Übrigens gehört in Neapel auf die Marinara mitnichten Meeresgetier. Es ist die denkbar simpelste Pizza der Welt. Früher mussten die Fischer, nach denen sie benannt ist, nach der nächtlichen Plackerei um einen guten Fang rasch satt werden nach ihrer Rückkehr aus den Wellen. Käse lag damals nicht in ihrer finanziellen Reichweite. Darum kommt auf die Marinara nur Tomaten und Oregano.
Ob der Trend in die Schweiz schwappt wie angestochene Burrata, ist unwahrscheinlich. Hier wird der Markt von Kettenbetrieben, Pizza Deliveries und ausgewanderten Neapolitanern beherrscht. Für die meisten sind da Pizzas Gewinnmaschinen, deren Zutaten möglichst wenig kosten dürfen. Und kratzen im Verkauf trotzdem an der 25 Franken Grenze. Den hiesigen Ranglisten-Erstellern für die beste Schweizer Pizza rate ich zu einem ausgedehnten Giro di Pizze quer durch Italien. Und beim Teig-Konsistenz testen nicht zu übermütig werden!
Caiazzo (1 Stunde nördlich von Neapel):
Franco Pepe
Pizzeria Pepe in Grani
www.pepeingrani.it
Neapel:
Pizzeria La Notizia, 53 /94
www.pizzerialanotizia.com
Turin:
Patrick Ricci – Terra, Grand, Esplorazioni
San Mauro Torinesi
Verona:
I Tigli
www.pizzeriaitigli.it
Rom:
Gabriele Bonci
Pizzarium, Via della Meloria, 36
Mercato Centrale di Roma, Via Giolitti, 36
www.bonci.it
Brescia:
La Cascina dei Sapori
www.lacascinadeisapori.it