Ich renne durch den verschneiten Üetlibergwald und wundere mich über das plötzliche Gedränge an JoggerInnen, den steilen Laternenweg hinauf. Doch nur kurz. Ungesund tönendes Gekeuche und an den Schuhsohlen aufblitzende Preiskleber entlarven die Fitness-Novizen in ihren neu erstandenen Outfits. Ihre hoffnungsvollen Jahresanfang-Vorsätze tropfen ihnen jetzt schon mitsamt ihrem Schweiss aus dem Gesicht. Ich weiss, spätestens Ende Januar laufe ich hier wieder allein den Berg hoch. Statt auf dem steilen Pfad werden die Couch Potatos dann wieder auf ihren Sofas zusammensacken, Netflix huldigen und Chips futtern. Was Zweifel freut, weniger aber unsere Krankenkassen.
Genauso wundere ich mich über einen (Mikro)-Trend, der gerade aus den Kaffeetassen schwappt. Low coffee. Nein, nicht slow coffee. Das war schon. Neben single origin, nachhaltig, support local roasters, premium instant, filter coffee, functional (tatsächlich wird da dem Kaffee Kollagen, CBD-Öl, Superfoods oder andere Scheusslichkeiten beigemischt) oder cold brew. Trotzdem trinkt 90% der Menschheit ihren Kaffee so wie immer schon. Kaffeebohnen zu Pulver mahlen, heisses Wasser durchjagen und fertig.
Jetzt also low coffee. Das ist, einfach erklärt, wie eine Viagra Pille mit der Hälfte ihres Wirkstoffes Sildenafil. Eine absurde Vorstellung. Was dabei entsteht, falls er steht, nennt man(n) dann wohl low Sex?
Der Mensch ist schwach. Genauer, sein Wille. Nicht nur bei den Neujahr-Vorsätzen. Das wissen wir seit dem Drama um Eva und den Apfel. Diese Unstandhaftigkeit allem gegenüber, was das Leben leichter und glücklicher macht, ist das Manna für die Marketingstrategen der Konsumgüterindustrie. Sie erfinden dann Dinge, die niemand braucht und das Sowohl-Als-Auch erfüllen. Oder eben vorgaukeln, zu erfüllen. Wie kalorienreduziertes und fettarmes Essen. Koffeinfreier Kaffee. Zigaretten, die dampfen, statt herunterbrennen. Wein ohne Alkohol. Fake-Fleisch und -Käse, die geschmacklich vom Original so weit entfernt sind, wie Andromeda, unsere Nachbar-Galaxie. Schmeckt alles scheusslich. Viel einfacher, effizienter und besser für Klima, Umwelt, Gesundheit und innere Zufriedenheit: die eigenen Ess- und Trinkgewohnheiten anpassen und entsprechend zu reduzieren, wenn man dazu neigt, als fetter, willenloser Trunkenbold und Suchthaufen zu enden. Und solcherart gefährdet ist gefühlt die Hälfte der Menschheit.
Zurück zum low coffee. Sogenannt koffeinfreier Kaffee gibt es schon länger. Wobei beim aufwändigen Prozess des Herausfilterns vom energetisierenden Stoff eben auch viele Aromastoffe auf der Strecke bleiben. Und auch ein kleiner Rest des Koffeins. Also greifen Produzenten nun auf zwei wenig bekannte Kaffeesorten zurück, welche von Natur aus einen tieferen Koffeingehalt aufweisen. Die eine ist Laurina, eine Bourbon-Mutation, die erstmals auf La Réunion auftauchte. Die andere, Aramosa, ist neueren Datums, eine Kreuzung verschiedener Arabica-Varietäten.
Der Koffeingehalt üblicher, gerösteter Kaffeebohnen beträgt beim Arabica etwa 1.3%, beim kräftigeren Robusta bis 2.7%. Bis maximal 0.08% darf laut EU-Richtlinien als koffeinfrei bezeichnet werden. Kaffee-farmer von low coffee Varietäten setzen ihre Höchstgrenze an Koffein bei 1% fest. Also ein himmelweiter Unterschied zu entkoffeiniertem Kaffee und ein ganz kleiner zum normalen. Natürlich sind die low coffee Bohnen auch um einiges teurer. Es wird weniger produziert und die Ausschussrate ist hoch, da Koffein für die meisten Schädlinge der Kaffeepflanzen als Gift und natürliche Abwehr wirkt. Da werden Pflanzen wie Aramosa und Laurina – mit tieferem Koffeingehalt – viel häufiger von Krankheiten befallen.
Vollkommen belanglos scheint die Idee, sich mittels leicht reduzierten Koffeins im Kaffee einen besseren Schlaf oder weniger Aufregung zu sichern, erinnert man sich an die chemischen Prozesse während des Brau-Vorgangs in der Kaffeemaschine. Es dauert mindestens zwölf Sekunden Heisswasserdurchlauf, bis Koffein in grösserer Menge aus dem Pulver gelöst wird. Kurz gesagt, jeder Lungo oder Cafe Crème (bei welchen die Extraktionsdauer bis zu 30 Sekunden betragen kann), ist mit drei- viermal mehr Koffein belastet als jeder kurze Espresso. Und doch wird der kleine Starke von den meisten Kaffeetrinkern mit dem Hinweis auf seine aufputschende Wirkung abgelehnt und nicht wenige greifen dann zum Cafe Crème. Ein folgenschwerer Irrtum, der sich spätestens bei der vergeblichen Suche nach erlösendem Schlaf rächen kann.
Richi Kägi ist Autor und Foodscout, schreibt Kochbücher und Kolumnen. Rezepte: homemade.ch und auf Instagram @richifoodscout. Sein Kaffeekonsum ist seit Jahrzenten konstant, 6-8 Espressi täglich. Full, not low.
Rezept Tiramisu: