Die Welt stand still, außer in den Küchen. Dort brach plötzlich hektische Betriebsamkeit aus. Es scheint, muss der Mensch zu Hause bleiben, dann kocht er. Der Corona-Lockdown stoppte eine trübe Entwicklung, die sämtliche TV-Kochshows bisher nicht aufhalten konnten: Immer weniger Menschen wollen und können kochen. Aber nun die Rückbesinnung – wenn auch aufgezwungen – auf den eigenen Herd. Nicht Trendrestaurants werden gestürmt, sondern Hofläden und Metzgereien. Statt den melodiösen Klängen in Konzerthallen lauscht das Volk daheim dem Blubbern der Sughi, dem Zischen des Fetts in heißen Pfannen, dem leisen Plopp des der Weinflasche entwundenen Korkens. Und das erlösende Piepsen des Backofen-Timers wird herbeigesehnt wie der Höhepunkt beim nachmittäglichen Beischlaf. Im beruhigenden Wissen, dass die Glocken des Ofens verlässlicher läuten als diejenigen im siebten Orgasmus-Himmel.
Ich sehne mir aber etwas anderes herbei. Die Chancen stehen gut, dass das Fallbeil der Abstands- und Hygieneregeln einer mir höchst suspekten Ernährungsform den Garaus machen wird. Dem Brunch-Buffet. Ich möchte mein Essen serviert erhalten. Oder koche selber. Vor Hunderten verschiedener Platten, Schüsseln und Töpfen von räubernden Buffet-Piraten herumgeschubst oder gemaßregelt werden? Nein.
Wichtiger noch, die Gnade des Appetits erreicht mich selten vor dem Nachmittag. Darum hoffe ich auf die Wiedergeburt des großen Bratenstücks. Spätestens jetzt sollten Vegetarier weiterblättern, für sie wird es nun heftig. Der Braten. Noch schöner, der Sonntagsbraten. Denn wann sonst als an diesem Wochentag ist man bereit, Gedanken, Zeit und handfeste Arbeit in etwas zu investieren, das sich schon Tage vorher als Idee materialisiert und sich mit fortschreitender Woche zu einem handfesten Plan entwickelt hat. Ein Plan, der eine äußerst nachhaltige Lebensweise begründen könnte, nämlich unter der Woche fleischlos zu essen. Ein Plan, der vergrabene Kindheitserinnerungen zurück in Nase und Gedanken holt. Der Bilder von edlem Geschirr heraufbeschwört, das nur an besonderen Tagen auf die gestärkte Tischdecke aufgelegt wurde. Ein Plan, der die Liebsten um den Tisch versammelt und eine köstliche Sauce um die Pièce de résistance gebiert, den fleischgewordenen Traum jedes kochenden Physiklehrers, der damit auf einfachste Weise darlegen kann, wie Hitze, Zeit und Flüssigkeit einen einschüchternd großen Klumpen tierisches Gewebe in den dampfenden, aromatischen Mittelpunkt des Sonntagstisches verwandeln. Und mich in eine Zeit zurückversetzt, als Backöfen noch am Boden montiert waren. Im Stehen konnte ich so als Knirps durch die gläserne, immer etwas fettgesprenkelte Türe der Verheißung blicken.
Zweifellos könnte dieser Plan auch an den Koch eines Wirtshauses delegiert werden. Doch was ist ein Höhepunkt ohne Vorspiel? Und das Beste an einem großen Bratenstück, das vor allem Zeit benötigt, während der es im beruhigenden Licht der Ofenlampe seiner köstlichen Vollendung entgegenschmurgelt, ist: Jeder schafft das.
Fehler, die ein kleines Fleischstück, eine Hühnerbrust oder ein Filet, ruinieren würden, verzeiht der Braten. Mit einer Gelassenheit, der wir uns während der ganzen, langen Zubereitungszeit demütig unterordnen. Dabei öffnen wir schon mal die erste Weinflasche. Ein Braten verlangt auch nicht nach vielen oder gar schwierig zu besorgenden Zutaten. Gerne lässt er sich auf Wurzelgemüse betten, einige Kräutlein dazu, damit er sich in seinem Bad aus demselben Wein, den wir ihm zu Ehren dazu trinken, nicht langweilt. Aber greifen wir nicht vor. Das Vergnügen beginnt nämlich bereits Tage früher, im Gespräch mit dem Metzger. Da entscheiden wir, welchem Fleischstück wir die Reverenz erweisen wollen. Seit Längerem denken wir über ungewohnte Teile nach, eine Lammschulter, orientalisch gewürzt, oder ein kunstvoll aufgerolltes Stück Kalbsbrust? Oder wir schauen, was der Fleischer gerade feilbietet. Soll es eine ganze Rinderhaxe sein? Das köstliche Knochenmark darf dann die Großmutter aus dem Knochen saugen. Lieber eine Côte de Bœuf, am Knochen gereift? Dabei gilt es, auf keinen Fall das Gewicht zu knapp zu kalkulieren. Denn mit den sich vielschichtig entwickelnden Düften, die das ganze Haus unter ihre olfaktorische Herrschaft zwingen, die Küche mit dem Aroma von Lorbeer, einreduziertem Rotwein und angeröstetem Gemüse füllen, steigt unsere Vorfreude und sinkt das Gewicht des Bratens. Was völlig normal ist, die Flüssigkeit im Fleisch verwandelt sich in entweichenden Dampf, der Ursprung der entstehenden Geruchsorgie. Also bitte die doppelte Menge berechnen, umso mehr lange Geschmortes aufgewärmt am nächsten Tag noch besser schmeckt. Überlässt man diesen Prozess der sich langsam erwärmenden Sauce, behält das Fleisch dabei auch seine zarte Weichheit.
All diese Gerüche, das leise Summen des Ofens, ab und zu ein kaum hörbares Blubbern in der Sauce. Es ist wie ein Versprechen: Du hast alles richtig gemacht. Du adelst den Sonntag, alles wird gut. Damit jetzt, gegen Ende der Schmorzeit, weder Hektik noch Bedenken wegen zu wenig oder einer zu dünnen Sauce aufkommen, gilt es, das Weinglas wegzustellen und die Meditation vor der Ofentüre abzubrechen. Ist die Sauce fast verdampft, helfen etwas Wasser oder Kalbsfond. Ist sie zu dünn, pürieren wir einen Teil des Schmorgemüses. Das Kartoffelpüree bereiten wir im letzten Moment zu. Mit ordentlich Butter muss es sein, nur so wird es zum eingeschworenen Komplizen der Sauce. Nur damit lässt sich der Damm für den Saucen-Stausee formen. Ein Stausee, in dessen Tiefe Gedanken an »Brunchen« sofort ertrinken. Und dessen Glanz die Augen in den glücklichen Gesichtern rund um den Tisch leuchten lassen. Mehr noch, der samtige Glanz gibt dem Sonntag etwas von seiner bourgeoisen Vornehmheit zurück.