Spiel mir das Lied vom Tod, blauer Marlin. Deine Bühne ist das viertausend Meter tiefe Meer unter dem Boot. Dein Instrument ist die drei Millimeter dicke Angelschnur, sie spult sich rasend schnell aus ihrem riesigen Kurbelgehäuse. Das Sirren von Rolle und Faden hört sich an wie ein Klagelied. Das dir gewidmet ist. Das du hören kannst. Dieses Lied dirigieren, das ist jetzt meine Aufgabe. Mein Taktstock ist die unzerstörbare Angel aus Karbon. Dein letztes Konzert, blauer Marlin, beginnt.
Ich weiss, was in dir vorgeht. In deiner Panik suchst du dein Heil im schnellen Abtauchen in die Dunkelheit der Tiefe. Ich lasse dir für einen Moment die Hoffnung, mir zu entkommen. Bis ich an der bronzefarbenen Trommel einen Schalter umlege und damit das Singen der Schnur abrupt beende. Nur Sekunden, nachdem mich die Crew festgeschnallt hat. In einem stählernen Sessel, am Boden festgeschraubt für die Ewigkeit. Eine Mischung aus Retro-Zahnarztstuhl und dem Pilotensitz des toten Ausserirdischen im Alien-Thriller. Auch die Angelrute wird mit dünnen Stahlseilen an mir festgezurrt. Wäre ich nicht dermassen fixiert, du würdest mich mitsamt der Angel vom Heck des Bootes in die Tiefe reissen. Die Angelrolle hat ihre Umdrehungen gestoppt, leises Stampfen des Diesels löst das nervenzerreissende Kreischen der Schnur ab. Der Skipper muss etwas Fahrt aufnehmen, du ziehst sonst das Schiff rückwärts, in deiner vergeblichen Mühe, mir wieder zu entwischen. Das Duell kann beginnen.
Wir sind eigentlich schon auf dem Rückweg. Die Crew hat die sechs Angeln noch einmal ausgelegt. Die armlangen, künstlichen Köder hüpfen weit hinter dem Boot durch die Wellenberge. Entgegen meinem Wunsch, ich habe genug. Nach sechs Stunden auf dem offenen Meer, liegen ein fetter Mahi Mahi und ein 180 Pfund schwerer Marlin in den Eiskammern des Trawlers. Petri Heil. Auf der Aussichtsplattform im Oberdeck döse ich über meinem Buch ein, obwohl mir eingeschärft wurde, die Köder zu beobachten. Doch die Hitze, das monotone Wummern des Diesels und die Erschöpfung durch das stundenlange Ringen mit den beiden Fischen fordern ihren Tribut. Aber du gönnst mir keine Ruhe. Bist minutenlang hinter dem Köder mit den darin versteckten, handgrossen Stahlhaken hergeschwommen. Um dich schlussendlich mit einem Satz aus dem Wasser auf ihn zu stürzen. ‘Marlin, Marlin!!’ schreit der Skipper. Er sah dich springen. Sofort stoppt er die Motoren, die Crew sprintet nach hinten. Ich fliege die Reling hinunter, das Adrenalin verscheucht die Mattigkeit. Die Wildheit in mir erwacht.
Jetzt bist du mit mir verbunden, auf Gedeih und Verderben. Stemmst dich gegen die gewaltige Übersetzung der Rolle an meiner Angel, ohne die ich chancenlos wäre, gegen deine urtümliche Kraft und Überlebenswillen. Die Sonne brennt, meine Oberschenkel auch, sie pressen sich deiner Flucht entgegen. Die Oberarme taub vor Schmerz. Einer von der Crew hält mir immer wieder die Wasserflasche an die trockenen Lippen. Wer einmal mit dem Fisch verbunden ist, muss es zu Ende bringen, ein Wechsel ist nicht möglich. Meine Gedanken wälzen zäh wie Lava durch den Kopf. Wo ist die Rechtfertigung, ein so herrliches Geschöpf wie dich aus dem Meer, aus deinem Leben zu reissen? Warum hast du zugebissen? Macht mein Equipment den epischen Kampf gegen dich, der drei Stunden dauern wird, zu einem ungleichen? Die Faszination und den once-in-a-lifetime-Thrill, den mir das Duell mit dir verschafft, trägst du alles andere als freiwillig und zum Spass mit. Macht es mein Handeln weniger grausam, wenn wir dich am Ende des Tages den Bewohnern des Fischerdorfes schenken, als Reminiszenz an die Herrlichkeit des Ozeans und seiner Bewohner? Je näher ich dich mit jeder Umdrehung der Rolle näher ans Boot und in deinen sicheren Tod ziehe, desto mehr hinterfrage ich mein Tun. Weder sehe ich mich als Hemingways Mann und das Meer, der aus bitterer Notwendigkeit des Überlebens fischt, noch als Alpen-Juan Carlos, mit purer Lust am (Elefanten) schiessen.
Du bist jetzt nahe, beginnst zu kreisen, ein Zeichen beginnender Schwäche? Und nun sehe ich dich das erste Mal, du schnellst deinen vier Meter langen Leib mit einem mächtigen Satz meterhoch aus den schäumenden Wellen. Als wolltest du sehen, wer dir dein Leben raubt. Mein Dilemma steigt mit jedem Meter, den ich dich näher an mich heranziehe. Du mobilisierst zum tragischen Ende Deine grössten Kräfte. Entsetzt sehe ich, wie die Rolle – sie ist auf eine Belastbarkeit von 500 Kilogramm eingestellt – selbstständig etwas Schnur nachlässt, damit diese nicht doch noch reisst. Ich bin am Ende meiner Kräfte, bettle darum, die Schnur durchzuschneiden, dich gehen zu lassen. Was die Crew ablehnt. Der riesige Haken im Maul des Ungetüms würde es genauso töten, einfach langsamer, wie der Stich in den Kopf, nachdem wir den 300 Kilogramm schweren Fisch zu viert auf das Schiff gezogen haben.
Ich sinke neben dir zusammen. Eine Mischung aus grenzenloser Erschöpfung, Trauer und Selbstverachtung treiben mir Tränen in die Augen, während meine Hand deine rauhe Haut streichelt. Wie das Leben dich verlässt, verblasst dein magisch-fluoriszierendes Blau zu stumpfem Grau. Deine Tennisball-grossen Augen schauen mich anklagend an.
Dich werde ich nie vergessen, blauer Marlin.