Es regnet wie am letzten Tag. Vermutlich erblicke ich gleich Noah hinter der nächsten Kurve, wie er an seiner Arche herum hämmert. Mehr als Schritttempo geht nicht. Der Schotterpiste ist der Sturzregen schlecht bekommen und der Cinquecento rutscht mehr, als dass er fährt. Zum Glück kreuzt kein anderes Fahrzeug meinen Weg, was mich auch nicht wundert, in dieser gottverlassenen Gegend. Nebel wallt aus dem Tal herauf, ich muss mich enorm anstrengen, um den Wagen in der Spur zu halten. Der Sizilien-Trip hatte in Palermo bei schönstem Sonnenschein begonnen. Mein Olivenöl-Lieferant Manfredi Barbera empfahl mir noch einige neue Restaurants, und gestärkt machte ich mich auf den Weg ins Landesinnere. Auf der Autobahn rief ich Signora Cappuzo an, die unbestrittene Chefin über Familie, Firma und Bankkonto einer kleinen Lebensmittel-Manufaktur, mitten in der Hügellandschaft der Madonie-Hochebene im Herzen Siziliens. Die Signora erklärte mir den Weg. Nein, sie schrie ihn mir ins Ohr. Ältere Italiener, die nicht mehr so gut hören und die Verbindung dafür verantwortlich machen, haben die Angewohnheit, besonders laut zu telefonieren.
Der Ort Petralia Sottana, eine Trutzburg von Dorf und mächtig auf einem Hügel thronend, ist schwer zu erreichen. Zudem liegt der Hof der Capuzzos, der auch ein Agriturismo ist, etwas versteckt hinter einem weiteren Hügelzug. Hier kocht die Familie Gemüse und Früchte zu Sugi und Marmellate ein, in allerfeinster Qualität. Geht es ums Eingemachte, sind die Italiener Weltmeister. Aber wo sind sie es nicht? Gut, im Calcio ist momentan der Wurm drin, dafür ist das Lamento über die Politik weltmeisterlich. Über die EU wie auch über den gerade Regierenden in Rom, den sie dann aber doch regelmässig wiederwählen zu ihrem Capo. Die schönsten Autos bauen, Steuern hinterziehen, Espresso brauen, schwarz arbeiten, Schönheitsköniginnen und Schnulzenlieder wählen, Abfallberge auftürmen, niemand kriegt das besser hin als unsere Amici im Süden. Doch zurück zu ihrer Kernkompetenz: dem Essen. Und zur Basis dahinter, den guten Produkten. Die Signora hiess mich herzlich willkommen. Und führte mich geradewegs dorthin, wo sich das Leben abspielt: In die Küche. Ich konnte es kaum erwarten, ihr neues Produkt zu testen, von dem sie mir schon seit Monaten vorgeschwärmt hatte.
Trotz des mediterranen Klimas sind auch in Sizilien die Winter hart, dann schrumpft die Gemüsevielfalt. Das wichtigste Gemüse, die Tomate, gedeiht nur in der Hitze, die Erntezeit ist kurz, die Riesenmengen müssen rasch verarbeitet werden. Obwohl die Industrie längst die Einmachkünste der Nonnas perfektioniert und auf höchste Effizienz getrimmt hat, ist es bei einigen, nach alten Traditionen hergestellten Spezialitäten nach wie vor nicht möglich, Handarbeit durch Maschinen zu ersetzen. Alle Rohstoffe für die Produkte der Signora Capuzzo wachsen auf den umliegenden Feldern. So auch die Tomaten. Daraus zaubert sie den „Strattu“, für Nicht-Sizilianer „Estratto“. Wobei zaubern einen falschen Eindruck vermittelt. Es ist Knochenarbeit. Ich hatte von dieser Wunderpaste immer wieder gehört und sie ab und zu auch bei Bekannten gesehen, aber nie als kommerzialisiertes Produkt. Es schien mir, jede gewiefte Nonna machte das nur gerade für die eigene Küche.
Ganz reife Tomaten werden an der Sonne angetrocknet und mit Meersalz zu einem Brei gemahlen. In dieser Konsistenz streicht man die Tomaten dreifingerdick auf türgrosse Holzplatten und setzt diese der sengenden Hitze aus. Um jegliche Feuchtigkeit zu vermeiden, kommen die Bretter nachts hinein. Ziel ist es, sämtliches Wasser aus den Tomaten verdampfen zu lassen. Diese Arbeit überlässt man der Sonne. Täglich wird die Paste umgerührt und wieder neu ausgestrichen, bis der Estratto eine ochsenblutrote Farbe annimmt. Nach etwa fünfzehn Tagen ist Schluss, aus zwanzig Kilo besten Tomaten ist ein Kilo aromatisch-würziger Tomatenextrakt geworden. Mit bestem Olivenöl aufgerührt und in Gläser abgefüllt, hält es sich im Kühlschrank fast ewig. Ich fragte die Signora nach den Anwendungen. «E buono per tutto!» Meine bisherigen Erfahrungen bestätigen: Dem Gebrauch sind fast keine Grenzen gesetzt: Ein Löffel „Estratto“ ist der perfekte Geschmacksverstärker. Umami pur! Er verfeinert Saucen und Suppen, gibt Brühen und Sugi Rückgrat, macht kräftige Braten aromatischer und verleiht Schmorgerichten und Cassoulets einen derart subtilen Hauch Würzigkeit, wie man ihn mit sonstiger Würze, einem Bratenfond oder gewöhnlichen Tomaten nie hinkriegt.
Ich habe die Capuzzos ungern wieder verlassen. Diese einmalige Mischung aus uraltem Handwerk und liebevoller Gastfreundschaft. Dort in der Küche zu sitzen, da stellt sich Seelenfrieden ein. Ein einfaches Essen geniessen, das einfach glücklich macht. Der Signora zusehen, wie sie Teig walzt und Gemüse schneidet. Und mich mit einem Lächeln ansieht, das mir sagen soll: Jetzt bist Du angekommen. Deine Suche hat ein Ende. Hier schmeckt es gut. Iss, mein Sohn. Vergiss Molekularküche und Fastfood, vergiss alle anderen kulinarischen Sünden. Es wird Dir vergeben. Und dazu lausche ich dem leisen Blubbern aus den Töpfen und stelle mir vor, wie viele Sugis wohl in diesem Moment auf Italiens Kochherde ihrer Vollendung entgegenköcheln. Gibt es einen schöneren Gedanken?
www.tudiaziendagricola.it