Guisante Lágrima – keine Erbsen für Erbsenzähler. Und wie unser Autor seine Henkersmahlzeit fand.
Gezählt habe ich sie doch. Obwohl ich ziemlich genau das Gegenteil eines Geizhalses bin. Denn bezahlt hätte ich für das bescheidene Häufchen der kleinen, tränenförmigen Vertreter der Pisum Sativum sogar das doppelte. Auch wenn der Preis für das Gericht vor mir im Teller, schon zum dreimal leerschlucken nötigte. Und die Tränenerbsen – so die korrekte Übersetzung für die spanische Bezeichnung Guisante Lágrima – brachten mich tatsächlich zum Weinen. Nicht des horrenden Preises wegen. Es gibt diese raren Momente im Leben eines Foodscouts, da realisiert man, dass wieder einmal ein Meilenstein auf der lebenslangen Suche nach geschmacklicher Perfektion gefunden wurde. Die Erbse im Heuhaufen des unendlichen, kulinarischen Universums.
Angerichtet waren die leuchtend hellgrünen Preziosen auf einem Traum von Krustentier-Bouillon, darüber schwebte ein Hauch einer leuchtend roten Wolke aus Carabineros-Schaum. An den akkurat gedeckten Tisch gebracht hatte mir den Teller der Meister himself. Martín Berasategui, ein seit langem mit drei Michelin-Sternen geadelter Koch, schmunzelte, als er meine Ergriffenheit bemerkte. «Du hast Glück, Ricardo, es ist gerade Saison dieser grünen Perlen, und sie dauert gerade einmal zwei Wochen». Es war ein guter Zeitpunkt für meine Reise ins Baskenland, nicht nur deswegen. Das Meer ist ruhiger nach den schweren Winterstürmen, die Fischer kommen wieder mit dem ganzen Reichtum an schwimm- und essbarem zurück aus dem kantabrischen Meer. Berasategui, übrigens einer der herzlichsten Kochstars in der obersten Liga der berühmten Gastronomen, verrät mir zum Ende des fünfzehngängigen Mittagessens noch den Namen des Bauern, der als Kurator der Guisante galt. Jaime Burgaña aus Getaria, nicht nur Bauer, sondern auch innovativer Pflanzenforscher, der als erster Produzent den grünen Kaviar aus der Erde holte.
30 Jahre sind seither vergangen, es wurde viel mit verschiedenen Erbsensorten und Standorten experimentiert. Zwei Hauptfaktoren müssen erfüllt werden: Salzgehalt und Feuchtigkeit. Und davon gibt es nicht nur an der baskischen, sondern auch an der andalusischen Küste, in Sanlúcar de Barrameda, reichlich. Meine nächste Station ist die Küche von Angel León, einem Besessenen von allem, was aus dem Meer kommt. Der 3*** Koch nimmt mich mit zu seinem Gemüsebauern Rafael Monge Gallego. Er züchtete aus alten, lokalen Erbsensorten die Guisante Costa Navazo, eine der baskischen Tränenerbse sehr ähnlichen Sorte. Auch sie verfügt über eine hauchdünne und zarte Haut, welche das Innere in einer Geschmacksexplosion im Mund verteilt, drückt man die zarten Erbslein mit der Zunge gegen den Gaumen. Und ebenfalls müssen 1 Kilo Schoten ausgelöst werden, um etwa 60 Gramm der Delikatesse zu gewinnen. Geerntet wird jeweils am frühen Morgen, und – ähnlich wie beim Picken von einzelnen, edelfaulen Trauben auf Chateau d’Yquem – es werden von jeder Pflanze nur die jeweils am Morgen perfekt reifen Schoten gezupft.
Das Aushülsen übernehmen ausschliesslich Frauen mit besonders zierlichen Fingern, die dünnen Schoten sind zum Öffnen zu delikat für derbe Bauernhände.
Diese Erbsen gelten als eines der weltweit zeit-empfindlichsten Gemüse. Der in ihnen enthaltene Zucker beginnt sich sofort nach der Ernte in Stärke zu verwandeln. Das beeinträchtigt den subtilen Kräutergeschmack und bringt die Balance zwischen Süsse und Salzigkeit mit zunehmender Lagerung aus dem fragilen Gleichgewicht. Zwei Tage nach der Ernte verliert die Tränenerbse bereits 60% ihrer Qualität. Die geringe Ausbeute und die kostenintensive, möglichst rasche Lieferung per Kurier ist der Grund für ein Preisschild von jenseits 300 Euro. Pro Kilo. Und auch dafür, dass das grüne Gold immer ein lokaler Genuss bleiben wird.
Angel León – in ganz Spanien nur ,el Chef del Mar’ genannt – serviert mir am Abend in El Puerto de Santa Maria die gleichentags gepflückten Guisante Costa Navazo in einem schaumigen, konzentrierten Pata Negra Bellota-Fond, und rührt etwas Plankton dazu, das er in einem selber ausgetüftelten und patentierten Verfahren aus Meerwasser gewinnt. Bei meinem ersten Besuch vor zwölf Jahren fischte er es noch mit einem hochfeinen Sieb aus dem Meer. Für eine Handvoll davon schaukelte er eine Woche lang durch den stürmischen Atlantik. Ein echter Nerd eben.
Ich lasse die grünen Kügelchen im Mund platzen wie winzige Ballone und küre sie augenblicklich zu meiner Henkersmahlzeit. Irgendwann mal. Und denke mir, das Märchen von der Prinzessin auf der Erbse muss neu geschrieben werden. Umgekehrt.