Sich Zeit lassen ist der wesentliche Faktor für Herstellung allerbester Produkte. Wie auch für das gute Leben. Foodscout Richard Kägi macht sich in Japan auf die Suche nach der uns verloren gegangenen Gelassenheit. Und findet die beste Miso-Suppe seines Lebens.
«Iss, mein Sohn, aber iss langsam, es nimmt Dir niemand etwas weg». Mein Mobiltelefon übersetzt die hingemurmelten Worte der uralten Japanerin korrekt, nehme ich an. Ihre leise Ermahnung versetzt die zwei Millionen Falten in ihrem Gesicht in wellenförmige Bewegungen, einer sich im Wind kräuselnden Meeresoberfläche nicht unähnlich. Und lässt dabei ihren Ausdruck noch gütiger erscheinen, trotz, oder gerade wegen dem aufblitzenden Schalk in ihren Augen. Ich welke ja auchdahin, wie jeder andere auch, leider unabwendbar, selbst für den eitlen Schmock, der in mir wohnt. Aber sich das herzliche, spielerische bewahren, auch wenn die äussere Form zerfällt, dafür ist diese Japanerin das Leuchtfeuer in der geriatrischen Dämmerung.
Ich bin in einem kleinen Dorf nahe Wakayama. Die Stadt – und mit ihr die umliegenden Wälder – südlich von Osaka ist ein Zentrum der Binchotan-Produktion. Diese besonders raucharme und lange glühende Holzkohle, die dabei auch noch ultraheiss abbrennt, wird weltweit nachgefragt, trotz Preisen von bis zu 70 Franken das Kilo. Ich besuchte die Köhlerei meines Lieferanten, er lud mich danach zu Miso-Suppe und Reis an den Tisch seiner Grossmutter ein. Er war bestimmt schon über 60, aber sie musste noch viel älter sein als die Ubame Gashi-Steineichen, aus deren Holz die Binchotan über Wochen in quälender Langsamkeit geköhlert wird. Sie erzählte mir Geschichten über die Wälder, das Meer und über die Berge, und wie sie als Kind von ihrer Grossmutter lernte, der Natur und der Welt um sie herum weder zu widersprechen, noch Geschehnisse in Frage zu stellen, die immer schon so passiert waren. Und das wichtigste: Sich für alles die Zeit nehmen, die es eben braucht.
Ihre Worte werden mich verfolgen, auf der weiteren Reise durch Japan. Vor allem beim Besuch von Produzenten, deren Hauptbeschäftigung bis zu Jahrzehnte dauerndes Warten auf Vollendung ihrer Lebensmittel besteht. Ist unser Dasein hier nicht durch ständigen Termindruck diktiert, durch pausenloses Erinnern an Geschehnisse, aktuelle und vergangene? Wir hetzen das Leben vor uns her, anstatt sich mit ihm zu verbünden und ihm nur sanft in die Richtung einzugreifen, die es mit uns einschlagen will. Für nichts mehr lassen wir uns Zeit. Der Chef möchte alles gestern schon erledigt haben. Online etwas bestellt? Es soll bitte eintreffen, noch bevor das Notebook wieder zuklappt. Alles wird «to go» angeboten. In der Tiermast wie im Dating ist Speed angesagt, selbst beim Orgasmus kann es nicht schnell genug gehen. Nun, bei den meisten Männernwohl eher unfreiwillig
Ich besuche Frau Okada in Higashikagawa, ein kleines Dorf auf Shikoku, der kleinsten der vier Hauptinseln. Sie leitet in 17. Generation die Soja-Brauerei Kamebishi und führt mich zu einem riesigen Fass mit Sojamus. «Diese Sauce habe ich vor 37 Jahren angesetzt, ich reiste nach Modena in eine Balsamico-Acetaia und war fasziniert von der Komplexität der bis zu hundertjährigen Essige. Ich sagte mir, das kann ich auch. Mit Sojasauce. Unter 50 Jahre Reifung verkaufe ich nichts. Und vielleicht reift sie dann auch noch länger. Gute Dinge brauchen Zeit, ich kenne keine Eile». Der Sojabrei wird weitere 14 Jahre vor sich hinfementieren und -blubbern. Wobei auch dort die Langsamkeit Kaiser ist. Alle paar Wochen entlässt der Inhalt mit diskretem Seufzen einige Gasbläschen. Frau Okada wartet nie darauf. Sie hat sich längst vom Pflock des Augenblicks losgebunden.
In der Präfektur Shizuoka, einer Halbinsel am Fusse des Fujiama, treffe ich Yasuhisa Seriwaza. Er ist Präsident von Slow Food Mount Fuji und Inhaber einer der letzten, traditionellen Manufakturen von Katsuobushi, dem getrockneten Thunfisch.Die Bonitoflocken sind unerlässlich für die Herstellung von Dashi, der japanischen Bouillon. Den artisanalen Prozess, innerhalb 6 Monaten die Hälften der kleinen Thunfische mittels kochen/räuchern/fermentieren in Umami-Bomben zu verwandeln, beherrscht seine Familie seit 140 Jahren. «In den Fabriken dauert das einige Wochen. Heraus kommt ein ganz anderes Produkt. Niemand will sich noch die Zeit nehmen, um die Feuchtigkeit innerhalb des steinharten Stückes mittels Koji-Pilze auf 17% zu reduzieren», klagt Herr Seriwaza. «Nur dann wird der Katsuobushi zum Honkarebushi, der allerhöchsten Qualität».
Ich halte der steinalten Frau stumm immer wieder meine Suppenschale hin. Die Geschmackstiefe, die Balance, das wunderbare Aroma und die perfekte Würzigkeit ihrer Miso-Suppe rauben mir die Sprache. Genauso stumm schöpft sie mir nach. Wir verstehen uns. Auch ohne Worte.