Wieso tut sich Genussmensch Richard Kägi das Laufen an? Es ist die Freude am Draussensein, den Körper spüren, beweglich bleiben, bis ins hohe Alter in der bestmöglichen Verfassung bleiben.
Ja, ich renne. Und ich trinke zu viel, da meine ich auch nicht Wasser. Trotzdem, der Titel ist etwas reisserisch. Und nicht mal auf meinem Mist gewachsen, sondern auf dem der Chefredaktorin. Aber sie weiss wohl, was zieht.
Ich tippe meinen Lauftracker an, und los geht’s. Die ersten paar Schritte wie immer etwas steif, Aufwärmen ist mir fremd, geht ja zuerst mal bergab. Heute meine Lieblingsstrecke, Sonnenberg–Üetliberg und zurück.
Ich renne, seit ich denken kann. Im Kindergarten den anderen Jungs nach, um ihnen die Bauklötze über den Kopf zu hauen, weil sie aus lauter Neid meine Bauwerke zum Einsturz brachten. Der Kindergartenlehrerin davon, ihr missfiel meine Selbstjustiz. Der Schulweg war zwei Kilometer, ich rannte ihn meistens, viermal täglich, zehn Jahre lang. Dem Vater davon, zumindest im Freien, ich war schneller, zeigte ihm von weitem eine lange Nase. Ärgerte ich ihn daheim, blieb als Fluchtweg nur die Treppen hochrennen, spätestens im Estrich war Endstation. Er musste sich nicht einmal beeilen, er konnte sich in aller Ruhe seinen Gürtel aus den Schlaufen ziehen.
Runter zum Römerhof, endlich geht’s geradeaus weiter, mein Puls pendelt sich um die 70 ein, die Beine fühlen sich gut an. Am Opernhaus vorbei, der See lacht mich an, noch ist es sogar mir zu kalt zum Schwimmen, weiter rauf auf die Quai-Brücke.
Rennen gehörte zu meiner Kindheit wie lange Sommerferien und Skilager. Velos gab’s für uns nicht, dafür war nicht genug Geld da. Da war es ein Vorteil, einen langen Atem haben beim (Davon-)Rennen. Ich rannte aber nicht nur pausenlos denen davon, die meine Streiche nicht goutierten. So wie dem Schulabwart, wenn ich mal wieder mit einem Stecker, dessen beide Pole ich miteinander verbunden hatte, die Stromversorgung des ganzen Schulhauses lahmlegte. Warum ich das damals aufregend fand, das kann ich heute nicht mehr nachvollziehen. Kids eben. Nein, Rennen machte mich glücklich, schon damals.
Weiter dem See entlang, rüber zum Bahnhof Enge, glücklicherweise macht es für meine Gelenke nie einen Unterschied, ob Asphalt oder Waldweg. Beim Sihlcity zieht es mich Richtung Binz, der direkte Weg über das Albisgütli auf den Üetliberg ist mir zu steil. Dann den Weg der Bahn entlang, ich werde nun etwas schneller, jetzt bin ich warmgelaufen.
Rennen ist banal, aber wie alle einfachen und alltäglichen Tätigkeiten bekommt es etwas Meditatives, manchmal gar Kontemplatives, übt man es lang genug aus. In meiner Kindheit und Jugendzeit dominierten Gewalt und Unterdrückung, vom Vater, Bruder, von Lehrern, anderen Kids. Rennen brachte Erleichterung, und ja, oft war es ein Davonrennen, die düstern Gedanken versuchen abzuschütteln, zumindest in diesen Momenten der Anstrengung, der Schmerzen in den Muskeln, des Stechens in der Lunge.
S10-Station Friesenberg. Gehrenholz, ich drehe nach links, endlich geht’s etwas den Hügel rauf, geradeaus laufen war nie so mein Ding. Auf «Strava», meiner Runners App, nennt sich der Abschnitt «Friesenbergstrasse Climb». Na ja. Um Fussgänger mache ich zurzeit einen Bogen, Social Distancing. Mein Puls klettert langsam gegen hundert, die Schritte werden etwas kürzer, dafür schneller, unbewusst passe ich den Atem-Rhythmus an, es läuft gut, die Gedanken sind an dem Ort, den ich gerade passiere.
Das vielgepriesene Runner’s High, die fühlbare Ausschüttung von Endorphinen, ich habe das nur ganz selten erlebt. Immer nur im Zusammenhang mit dem Durchqueren grossartiger Landschaften und erst nach stundenlangem Laufen oder Radfahren, meistens bergauf. Oft höre ich vom darauf basierenden Suchtpotenzial, das Menschen zum Laufen bringt. Es mag sein, dass ich mich dem nicht ganz entziehen kann, doch mehr noch ist es die Freude am Draussensein, den Körper spüren, beweglich bleiben, bis ins hohe Alter in der bestmöglichen Verfassung bleiben. Und ich wäre nicht der rennende Säufer, würde ich meine Süchte beim Laufen ausleben. In anderen Worten, ich MUSS laufen. Sonst wäre ich längst verfettet und versumpft.
Endlich im Wald, der israelitische Friedhof liegt hinter mir, der Weg schlängelt sich noch etwas geradeaus durch die Bäume, bevor es ans Eingemachte geht. Es sind nur dreihundert Höhenmeter bis hinauf zum Turm, doch die haben es in sich. Ich konzentriere mich auf meinen Atem, denke daran, was ich heute Abend koche, denke an die Liebe, an die Arbeit, überhaupt an alles Mögliche, nur nicht an die Steilheit des Geländes. Mein Puls springt hoch auf hundertsiebzig, was er eigentlich nicht dürfte, mein Pacemaker riegelt in der Theorie ab bei hundertfünfzig. Dazu mehr ein anderes Mal, es ist kompliziert..
Und immer wieder renne ich, um Unglück und Frustration aus meinen Gedanken zu verdrängen, es ist meine Art der (Psycho-)Therapie. Es hilft nicht immer, die grossen Dramen im Leben lassen sich auch durch noch so viel Anstrengung nicht auflösen, und eine zerrissene Seele wächst dadurch nicht von selbst wieder zusammen. Doch Grübeln draussen im Wald anstatt daheim, mit all den Gerüchen, Geräuschen, zufälligen Begegnungen mit Tieren und der Unbill des Wetters, es lindert.
Normalerweise drängeln sich Schulklassen und Pensionäre um den Üetlibergturm, doch trotz strahlender Sonne ist der Platz wie ausgestorben. Ich widerstehe der Versuchung, anzuhalten, und stürze mich die steile Rampe Richtung Albisgütli hinunter. Der Vorteil eines massiv vergrösserten Herzens (in jeglicher Hinsicht) zeigt sich sofort an seinem Rhythmus. In den wenigen Minuten bis hinunter zum Strassenverkehrsamt fällt der Puls um hundertzwanzig Schläge, bis auf knapp sechzig.
Ein weiterer Vorteil des Laufens: Du brauchst niemanden dazu. Schuhe schnüren, und los geht’s. Ich muss meine Pace laufen, gerade so, wie ich mich fühle. Und reden will ich auch nicht beim Laufen, die Luft ist in die Muskeln besser investiert als in die Zunge. Ich kenne meine kompetitive Seite, es war nie ein gute Idee, in einem Pulk zu laufen, es bringt mich rasch aus meinem Rhythmus.
Gemächlich trabe ich runter nach Wiedikon, am Bahnhof Enge vorbei, der See zu meiner Rechten, durchquere den Sechseläutenplatz und weiter Richtung Hottingen. Die leichte Steigung zum Römerhof und die bisher zurückgelegten neunzehn Kilometer lassen mich ein leichtes Ziehen in der linken Wade spüren. Ein Zeichen, das ich früher ignoriert hätte, das ich dann oft tagelang noch spürte oder sich sogar zu einer Zerrung ausweitete. Ich nehme für den letzten Kilometer die Dolderbahn, denn beweisen muss ich mir schon lange nichts mehr.