Richard Kägi isst und trinkt sich nicht nur durch sein Foodscout-Leben, er versucht sich auch fit zu halten. Wie er es schafft, beides miteinander zu vereinbaren, darüber berichtet er hier in den nächsten Monaten. Das grosse Ziel ist der Swissalpine-Marathon in Davos
Die Erinnerung daran ist so klar, wie wenn ich es vorgestern getan hätte. Kaum war ich von Davos weggefahren, kurbelte ich das Dachfenster nach hinten und schmiss meine Laufschuhe in grossem Bogen hinaus, ohne zurückzublicken. Noch weniger wollte ich zurückdenken an die vergangenen zwölf Stunden. «Nie mehr solche Schuhe anziehen, nie mehr laufen, nie mehr Sport.» Wie ein Mantra murmelte ich diese Worte, wiederholte sie wieder und wieder, so manisch, wie ich die Stunden davor meine Füsse vorwärtsbewegt hatte, mit nur einem Gedanken im Kopf: endlich ankommen.
Was ich auch tat, am Ziel des Davoser Swissalpine-Marathon, nach siebzig Kilometern und 3000 Höhenmetern Hinauf- und Herunterrennen. Noch bevor ich Chur erreichte, bereute ich den Schuh-Hinauswurf bereits sehr, und natürlich stand ich am Tag darauf als Erster im Sportgeschäft für ein neues Paar Laufschuhe an. Und ich renne noch immer.
So viel Schmerz und Anstrengung, so viel Verbissenheit
Zurzeit entbrennt eine Schlacht zwischen Hedonisten und Bonvivants einerseits und den superdisziplinierten Selbstoptimierern anderseits, die allem entsagen, was sie satt, fett, betrunken, high, abhängig und schlaflos machen könnte. Kurzum: die allem entsagen, was glücklich macht. Wer möchte denn schon sein Leben verpennen? Das Schlachtfeld: Essays und Kolumnen in den Feuilletons der Wochen- und Sonntagszeitungen.
Nun, Selbstoptimierung ist per se nichts Schlechtes. Aber weshalb denn so dogmatisch und freudlos? Ich meide Gyms wie der Teufel das Weihwasser. Nicht nur, weil ich ein Waldkind bin. Nein, wegen der Menschen dort – sie vermitteln das Gefühl, das Leben sei ein einziger Hindernislauf, den sie nie gewinnen würden. So viel Schmerz und Anstrengung, so viel Verbissenheit. Und das freiwillig, in der knappen Freizeit.
Es darf ja auch einmal weh tun. Tat es mir auch, nach den siebzig Kilometern, alles, und wie! Ich wusste auch, warum: zu wenig Vorbereitung. Zu oft steigt ein Quentchen Unlust beim Sportschuheschnüren in mir hoch. Dann fackle ich nicht lange, Schuhe und Sportklamotten wandern wieder in den Schrank, denn auch ein Tag ohne Training ist ein guter Tag. Nachschauen, was im Kühlschrank auf mich wartet, ist dann der Ausgleich. Die Motivation kann manchmal tagelang auf sich warten lassen, wenn die Freude fehlt, egal. Schon lange nehme ich mir nur noch Dinge vor, die mich glücklich machen.
Da gehört der Griff zur (Champagner-)Flasche eben auch dazu, kaum dunkelt es draussen ein. Dabei bleibt es dann meistens nicht, das halbe Dutzend verschiedener Gins aus Südafrika, die ich testen muss, die neuen Käsemuster, die auf strenge Beurteilung warten, zwei Pasta-Rezepte gilt es auszuprobieren, die ich für unsere Website kreiert habe. Klar, dass dazu einige Gläser Rotwein gehören. Sanft angeschickert geht das Kochen leichter von der Hand.
Soll ich denn nur Wasser trinken? Das ist langweilig und macht einsam. Wer spricht denn schon mit einem Brunnen? Selbstredend, dass bei diesem Pensum der Sport abends kein Thema mehr ist. Dafür ist der frühe Morgen reserviert. Die 50 bis 100 Liegestütze vor dem Schlafengehen (je nach Alk-Pegel) lasse ich mir hingegen seit vierzig Jahren genauso wenig nehmen wie den Amaro und einige Espressi nach dem Dinner. Und ab und zu eine Zigarre oder ein geschnorrtes Zigarettchen.
Lassen sich die Ärgernisse des Alltags wegrennen?
Nun, das heisst aber nicht, dass ich mir jeden Abend einen in den Dachstuhl stelle. Obwohl ich nach den gängigen Kriterien – was die Mengen und die Regelmässigkeit betrifft – kaum abstreiten kann, als Alkoholiker zu gelten. Andererseits traute mein Arzt lange Zeit seinen Instrumenten nicht, wenn er meine Blut- und Leberwerte analysierte. Und auch sein Stethoskop hatte er schon wegwerfen wollen, weil er bei mir nur alle Ewigkeiten einen Herzschlag hörte. Der Vergleich mit einem Bären im Winterschlaf war da nicht unpassend. Heute eicht er sogar seine Labortechnik nach meinen Cholesterinwerten, er mass nie bessere.
Sind es die Gene? Der Verbrauch von Unmengen bestem Olivenöl in meiner Küche? Den ganzen Tag nur Kaffee und Wasser trinken, dafür abends riesige Mengen reinschaufeln und dazu bechern ohne Ende? Fast kein Fleisch essen? Vielleicht das alles. Ganz sicher aber die Einsicht, auf nichts verzichten zu wollen, was glücklich und das Leben leichter macht.
Die paar Stunden Lebenszeit, die mich ein Räuschchen kosten, kompensiere ich mit einer flinken Velorunde um den Zürichsee. Die Ärgernisse des Alltags lassen sich wohl wegtrinken, in meinem Fall aber auch wegrennen, wegschwimmen, wegpedalen. Darum nehme ich dieses Jahr den Davoser Marathon ein weiteres Mal in Angriff. Vor zwei Jahren hatte ich dieselbe Idee, aber zwei Wochen vor dem grossen Tag rissen beim Training die Bänder am Knöchel. Ein Jahr Vorbereitung löste sich in Schmerz und Agonie auf.
Ende Juli kommt die Live-Vollzugsmeldung
Es bleiben sechs Monate Zeit, in denen ich von jetzt an in regelmässigen Abständen über meine Fortschritte im Weinkeller-Dezimieren, Salami-Humidor-Leeressen, Napolis-Pizzerien-Testen berichten werden. Und natürlich über meine Kondition, die noch etwas Rückenwind benötigt.
Man wird aber auch erfahren, was ich von all den Mittelchen halte, denen Ausdauersportler vertrauen; warum mir Teamsport immer ein Greuel war; was neben dem Laufen sonst noch ansteht in Sachen Muckis und Ausdauer-Stärken – und einiges mehr aus meiner ziemlich ereignisreichen, sportlichen (und weinseligen) Vergangenheit.
Und Ende Juli kommt dann hoffentlich die Live-Vollzugsmeldung aus den Davoser Bergen, diesmal mit Schuhen. Die entsorge ich dann erst zu Hause.