Start in Davos ist um 08.30, ich stehe um 5 Uhr auf und schlendere hinüber zum Hotel Grischa, die bieten Früh-Frühstück an. Was ich sonst tunlichst unterlasse, nämlich essen vor dem Laufen, werfe ich über den Haufen und heute schlage ich zu: Omelettes und Rühreier, Müesli, Käse, sogar eine kleine Bündner Nusstorte rutscht mir wie zufällig auf den Teller. Ich werde es bereuen später. Am Abend vorher bin ich per Bahn relaxt angekommen und bezog bei meiner Schwägerin Quartier, da füllte ich ein letztes Mal die Kohlehydrat-Speicher mit einigen Tellern Pasta, natürlich mit von zu Hause mitgebrachtem, selbstgekochtem Sugo. Ein halbes Huhn hatte dann auch noch Platz. Nun, kurz bevor es losgeht, rufe ich mir noch einmal meine geplanten Durchgangszeiten an den einzelnen Posten und auf den vier Pässen in Erinnerung. An ihnen orientiere ich mein Tempo, ich habe vor, die Maximalzeit von dreizehn Stunden nahezu auszureizen. Das heisst aber auch, es darf nichts Überraschendes passieren, das mich aufhalten könnte. Während den ersten zwölf Kilometer Richtung Dürrboden bremst mich der noch immer volle Magen, das Gefühl, am Boden wie festzukleben, verschwindet dann aber, zudem war ich schon immer ein langsamer Warmläufer, nach etwa einer Stunde geht es jeweils unbeschwerter. Das Tal windet sich in sanften Schlaufen bergwärts, meine Gedanken sind aber ganz woanders, dieser Lauf, (und vor allem die Vorbereitungen dazu) er ist Psycho-Therapie für mich. Eine, für die ich den Zürcher Shrinks ein Vermögen hätte hinblättern müssen. Die vergangenen Jahre hatten mir stark zugesetzt, mein Gefühlsleben glich eher einer emotionalen Berg- und Talfahrt, denn einem langsam und ruhig dahinfliessenden Strom. Aber die Konzentration auf meinen Selbstwert und meine Stärken – nicht nur beim Laufen – halfen, meine innerliche Balance wiederzufinden, und das wiederum koppelte positiv zurück auf meine sportliche Motivation. Extremer Sport war schon immer auch eine Rückzugs-Strategie für mich, nirgends sonst kann ich meine Gedanken derart frei ausbreiten, neu ordnen und Inspiration tanken.
Fast am Ende des Dischma-Tals geht es endlich richtig los, am Berg. Der Weg hoch zum Scalettapass steigt steil an, alle werden langsamer, es sind rund 1100 Höhenmeter zu erklimmen. Vor mir ein Grüppchen, sie haben noch Luft für ein Schwätzchen. Und auch noch für Anderes. Eine spindeldürre Mitte-Vierzigerin lässt einen furios dröhnenden Furz fahren, zwei Meter vor mir! Und das geradewegs in meine Nase, der Steilheit des Geländes geschuldet. Ich schwanke zwischen Verwunderung, wo sie die Luft dafür wohl gespeichert hatte, und Empörung. Klar, das passiert allen an solch einem Lauf ein Dutzend Mal, auch mir. Aber nicht ohne mich vorher meines Alleinseins zu versichern, und zwar vor UND hinter mir. Ich schliesse zu der dreisten Dame auf und beginne einen freundlichen Diskurs über ihren losgelassenen Wind. Es ist ihr hochnotpeinlich, doch mein Finger ist schon in der Wunde. Drehend. Ich schwadroniere über die Flatulenz-Artisten im Paris des 19. Jahrhunderts, das waren eigentliche Stars, sie füllten grosse Säle, mit ihren melodiös orchestrierten Winden. Gar ganze Geschichten vermochten sie pupsenderweise zu erzählen. Joseph Pujol, der Talentierteste, trat für astronomische Gagen im berühmten ,Moulin Rouge’ auf. Zunächst demonstrierte er einige Tenor-, Bariton- und Bassfürze, dann die Winde einer Braut vor und nach der Hochzeitsnacht, sowie das wohlgefällige Flatulieren der dazugehörigen Schwiegermutter. Er führte Donnergrollen und Kanonendonner vor, dazwischen imitierte er verschiedene Blasinstrumente und furzte ein paar Kinderlieder.
Doch meine Ausführungen machen die Frau nicht gelassener, umsomehr nun das ganze Grüpplein mitdiskutiert. Mir scheint, sie würde sich am liebsten in ein Murmeltier verwandeln und schamhaft in einem der vielen Löcher neben dem Weg verschwinden. „Gehören sie möglicherweise auch zu den Frauen, die kategorisch abstreiten, überhaupt je einmal ihren Darmgasen den Abgang zu ermöglichen?“ In ihrem Blick blitzt Mordlust auf, gleich stösst sie mich in den Abgrund rechterhand. Ich lasse mich zwei Meter zurückfallen und muss darum etwas lauter sprechen. Was die Zuhörerschaft erweitert und die Dame nicht wirklich besänftigt. „Wenn ihre Katze am Morgen Ihr Schlafzimmer betritt und sofort ins Koma fällt, sollte Ihnen klar sein, dass der Körper auch selber Wege findet, sich der lästigen Körperluft zu entledigen. Und dauerndes Zurückhalten kann zu einer Divertikulitis führen, einer Entzündung der Darmwände.“ Ich zitiere noch eine australische Forscherin, ihr Artikel mit dem Titel ‚What happens when you hold in a fart?‘ machte sie zur Koryphäe auf dem Feld der Furzforschung (FF). „Diese Wissenschaftlerin hat übrigens herausgefunden, dass ein Teil von zurückgehaltenen Pupsern vom Körper wieder aufgenommen und dann über die Atemluft nach draussen gelangt. Sie haben also die Wahl.“ Die Dürre schlägt sich die Hand vor den Mund. Aus Schrecken? Ich überhole das Grüpplein, und werde es nie erfahren. Der Pfad wird steiler, tief atme ich die frische Bergluft.
Den Scalettapass erreiche ich in würdigem Zustand, ich müsste essen, nahm aber nichts mit und muss bis weiter zur nächsten Verpflegungsstation, mit knurrendem Magen. Der Weg verläuft für die nächsten etwa acht Kilometer der Bergflanke entlang, bis auf 2200m über Meer leicht absteigend, danach brutal steil hoch zum höchsten Punkt des Laufs, dem 2740 hohen Sertigpass. Ein Helikopter sammelt fleissig LäuferInnen zusammen, die erschöpft aufgeben. Die Versuchung, mitzufliegen, schlängelt sich verführerisch um mein Ego wie seinerzeit die Schlange um Eva. Es widersteht und sagt Nein, und ich laufe weiter.
Auf dem Pass überrascht ein Fotograf die Läufer, für die obligaten Gipfelfotos. Mit wenig Erfolg versuche ich, mir die Erschöpfung aus dem Gesicht zu lächeln. Ich bin am Anschlag und nehme unverzüglich den steilen Weg durch eine nicht endendwollende Geröllhalde in Angriff. Jetzt profitiere ich vom jahrelangen Training in Kapstadt. Bin ich dort, laufe ich täglich auf das Plateau des Tafelbergs, runter geht es dann ebenso steil wie am Sertigpass, die Pfade bestehen aus grossen Felsbrocken, manchmal noch treppenartig behauen. Da entwickelte ich die Technik, immer nur zwei Meter vorauszuschauen und mir die nächsten zwei Tritte in Gedanken schon festzulegen, auf welchem Stein ich dabei auftreten werde. Flott geht es bergab, unten im Tal warten Bananen und isotonische Getränke. Sertig-Dörfli ist gleichzeitig auch der Start zum nächsten Aufstieg. Den 2580m hohen Fanezfurgga-Pass erreiche ich zusammen mit einem deutschen Läufer, er ist einige Male nahe am Aufgeben, ich muntere ihn wieder und wieder auf, weiterzuklettern. Während des unendlich langen Abstiegs über tausend Höhenmeter hinunter nach Monstein überhole ich dank meiner Bergablauf-Technik mehrere Sportler. Das Laufen in diesem wunderschönen Tal – unbestritten der attraktivste Abschnitt – motiviert ungemein, der daraus resultierende Flow in Körper und Geist lässt mich aber auch leichtsinnig schnell werden. Und das hat böse Folgen. Ich rutsche auf einem wackligen Stein aus, und prelle mir den Knöchel des rechten Fuss. Derselbe Knöchel, der mich vor zwei Jahren schon stoppte, während der Vorbereitung auf diesen Lauf. Ich bleibe minutenlang liegen, die Enttäuschung wiegt bleischwer noch stärker als der Schmerz. Glücklicherweise nichts gebrochen oder gerissen, aber ich ahne, jetzt wird es schwierig, die Zwischenzeiten noch einzuhalten. Lust- und kraftlos humple ich das Tal hinab, keine Augen mehr für tosende Wasserfälle und achthundertjährige Arven. In Monstein diskutiere ich mit den Sanitätern am Verpflegungsposten, sie wollen mich nicht weitergehen lassen. Ich bin zu knapp in der Zeit, sie nehmen mir die Startnummer mit den eingeklebten Chips zur Zeiterfassung ab. Ich kann es nicht akzeptieren und mache mich weiter auf den Weg, hinauf zum Rhinerhorn. Doch der nun geschwollene Fuss fordert seinen Tribut, irgendwann geht es nicht mehr, die Schmerzen zwingen mich zum Umkehren. Zurück in Monstein treffe ich den Deutschen von vorhin wieder, er hat aufgegeben und wartet auf seine motorisierte Frau. Sie nehmen mich mit nach Davos, die Rückkehr hatte ich mir anders vorgestellt. So kurz vor dem Ziel aufgeben müssen, es wird mich noch lange beschäftigen. Früh am nächsten Tag – nach einem kurzen Auflockerungslauf zum Davosersee – schaue ich die Berge hoch, sie glänzen majestätisch in der Morgensonne und ich bilde mir ein, ihr Wispern zu hören: „Diese Niederlage kannst Du nicht auf Dir sitzen lassen, Du wirst wieder kommen“. Und wer mich kennt, der weiss, sie haben recht.